Zum Andenken an Heide Berndt
Am 22. Februar 2003 verstarb völlig unerwartete unsere Kollegin Dr. Heide Berndt, seit 1978 Professorin für Soziale Medizin an der Alice Salomon Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin.
Heide Berndt hatte sich als Stadt – und Medizinsoziologin einen Namen gemacht. In ihren Arbeiten lebt die kritische Theorie der Frankfurter Schule, der sie sich zeitle bens verpflichtet fühlte. Ihre 1968 veröffentliche Diplom-Arbeit über „Das Gesell schaftsbild bei Stadtplanern“ ebenso wie die „ Architektur als Ideologie“ (mit A. Lo renzer und K. Horn) leiteten ein Umdenken im funktionalistischen Städtebau ein.
In den 70ger Jahren verlagerte sich ihr Interesse. Sie engagierte sich in der kriti schen Psychiatrie-Bewegung. Es erschienen zahlreiche Aufsätze und Rezensionen zur Sozialpsychiatrie, Sozialmedizin, Sozialarbeit, zur Geschichte der Sozialhygiene und zuletzt ein Beitrag über die Krankheit von Max Weber. (Weitere Aufsätze wird die Alice Salomon Fachhochschule in „Alice Wissenschaft“ herausgeben.)
Liest man Heide Berndts Schriften aufmerksam, erkennt man den auf die Moral der Profession gerichteten Fokus. Sie argumentiert nicht ohne Spott gegen moralische Forderungen, die von Wissenschaftlerinnen des letzten Jahrhunderts an die Ausbil dung der Sozialfürsorgerinnen gestellt wurden. In einer kritischen Analyse beklagt Heide Berndt eine ihr befremdliche, die Realität verstellende, Schwülstigkeit und be fürchtet, dass die moralische Beschwörung die Form eines fordernden Appells ein nimmt. In dieser Auseinandersetzung wird ihre intellektuelle Heimat, die 68er Bewe gung, deutlich: so war sie sensibilisiert für eine verführerische Sprache und gegen jede Theorie, die in den Verdacht geriet, unkritisch oder unpolitisch rezipiert worden zu werden. Ihre beharrliche Auseinandersetzung um die richtige Moral führte häufig zu erfrischenden neuen Einsichten aber auch zu Konflikten mit Andersdenkenden, wie auch zu jahrelangen Briefwechseln mit ehemaligen „Opfern“ ihrer Kritik.
Zu ihrer Moral als Hochschullehrerin gehörte ein hoher Anspruch an sich selbst und an Studierende, die sie fordern und begeistern konnte. In ihren Lehrveranstaltungen betrachtete sie es als ihre Aufgabe, den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Erfahrung und Wissenschaft herzustellen. Sie vertrat damit offensiv einen für die Praxis der Sozialen Arbeit bedeutsamen Wissenschaftsbegriff, der das eigene Ich als zentralen Beurteilungs- und Bewertungsmaßstab würdigt: „Die wissenschaftliche Herangehensweise“, so trägt sie in ihrer letzten Verabschiedung von DiplomandIn nen vor, „löst die Sozialarbeit aus ihren moralisch fixierten Selbstverständlichkeiten, gibt Anstöße, die Handlungsweisen in der Praxis ständig neu zu hinterfragen, für jeden einzelnen Fall eine eigenen Lösung zu erarbeiten. Die theoretische Verarbeitung persönlicher Erfahrungen durch kritischen Literaturvergleich oder Befragungen, kommt einer Supervision nahe. Beides sind Reflexionsverfahren. Diese sind im Zeitalter der Individualisierung, in der sich die Lebensläufe immer unterschiedlicher gestalten, notwendig, um die Vielfalt denkend zu durchdringen, um nicht entnervt im Chaos zu landen“.
Heide Berndt lebte intensiv, sie war voller Pläne, zumeist war sie in Eile. Zeit, sich um Psychiatrie geschädigte Patienten und deren Angehörigen zu kümmern, fand sie dennoch immer. Mit ihrem Kollegen Helmut Möller veranstaltete sie Psychose-Semi nare, die ihr sehr wichtig waren und in der Praxis große Beachtungen fanden. Sie hatte noch soviel vor, nur noch ein Semester, dann endlich wollte sie ihre drei großen Buchprojekte, an denen sie seit vielen Jahren gleichzeitig arbeitete, ab schließen. Es handelt sich hierbei um „ihre“ Geschichte der Sozialarbeit und die „Entzauberung“ von Alice Salomon, die wir - ihrer Überzeugung nach - alle falsch interpretierten, um eine Arbeit über die Ziele und Bedeutung der Frankfurter anti-au toritären Kinderläden; sowie ein ehrgeiziges Buchprojekt über die 68er Bewegung und ihren Einfluss auf die soziale Arbeit, für das sie bereits über hundert Personen in den letzten Jahren interviewte.
Heide Berndt bleibt unvergessen, sie hat die Alice Salomon Fachhochschule berei chert. Sie war als Kollegin, Wissenschaftlerin und Hochschullehrerin leidenschaftlich und kühn, moralisch bestimmt und schonungslos, wenn sie Fehler sah. Unverzagt und beharrlich im Einsatz für ihre Studierenden und ihre KlientInnen. Eine wider spenstige und charismatische Persönlichkeit in einem.
Brigitte Geißler-Piltz
Prorektorin der Alice Salomon Fachhochschule Berlin